Ana's Blog

Es geschah letztes Wochenende in der weltkleinsten Weltstadt Baden-Baden im Schwarzwald. Geplant war ein ausgeglichener Mutter-Tochter-Nachmittag mit reichhaltiger Eiscreme-Schlemmerei und flanierender Sonnenbrillen-Patrouille. Danach eine unausweichliche und unsystematische Shopping-Strapaze mit einer unaufhaltsamen Schnäppchenjagd so kurz vor Ladenschluss. Zum letzten Vorhaben kamen wir nicht mehr, denn Frau N. aus Baden-Baden kostete uns ganze 2 Stunden und ein halbes Kartoffelbrot. Geschnitten und gut ausgebacken, wohl bemerkt.

Und so begann die Geschichte von Old Lady Dreist.

Die vergreiste und buckelige Frau bewegte schwankend ihren bepackten Rollator über das holprige Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone Baden-Badens. Sie wirkte gebrechlich und ihre Bewegungen sahen sehr unkontrolliert aus, denn die Dame erschien kraftlos der Nachmittagshitze erlegen zu sein. Ohne zu zögern eilten wir gleich zur Hilfe während zeitgleich ein älteres Ehepaar ebenso eifrig angerannt kam und uns seine Unterstützung anbot. Die alte Frau blickte zu diesem Zeitpunkt deformierte Löcher in die Luft und stammelte leise und in zitterigen Worten „Ich brauche Hilfe, kann mir bitte jemand helfen ?“ Die Speichelflüssigkeit entfloss ihr aus den heruntergezogenen Mundwinkeln und zierte ein unsymmetrisches Mandala auf ihrer blass-roten Jacke, die auf dem Wagengepäck ganz oben auflag. Ihre Gesichtsfarbe trug die Nuance gespenstisch ausgebleicht. Schnell gab ich ihr klar und deutlich zu verstehen, dass wir ihr helfen werden und fragte Sie, ob wir sie stützen dürften. Sie bejahte und hängte sich zwischen dem netten Pärchen ein, während ich ihren üppigen Rollator über das harte Pflaster karrte. Zugegeben nicht ganz leichtläufig, wie ich zuerst annahm.

Auf Asphalt wieder angekommen, bestätigte ich dem hilfsbereiten Paar, dass wir uns weiter um die erschöpfte Frau kümmern würden und so gingen sie ihres Weges. Wir setzten die alte Dame als erstes auf eine Bank, um das erste Gespräch mit ihr zu suchen. Meiner Mutter ging diese Situation ganz offensichtlich zu nah und so überließ sie mir das bevorstehende Interview in Badener Allee-Kulisse, während sie weiterhin die Tempotaschentücher als Prophylaxe von weiteren sabberösen Attacken fest in der Hand hielt.

Nun konnte ich unser „lebendiges Fundstück“ mal genauer unter die Lupe nehmen. Besonders schnieke sah sie nicht aus. Das aschgraue Haar fiel ihr lustlos ins Gesicht, der ungepflegte Damenbart zog alle vier Himmelsrichtungen an und ihre dunkelblaue Baumwoll-Multifunktions-Schlabberhose mit weißen aztekischen Geheimsymbolen diente als Gedenktafel an ihre letzten Mahlzeiten. Zu meiner Überraschung konnte mir die Frau ihre genaue Wohnadresse mitteilen, worüber ich schon mal erleichtert aufatmete. Nach weiterer Anamnese erfuhr ich allerdings, dass sie keineswegs den Nachhauseweg anzustreben vermochte. Ihre geplante Einkaufstour war noch nicht beendet und so fand ich mich in einer Quiz-Show ähnlichen Bredouille wieder, darüber zu grübeln, ob Penny, Netto oder Kaufland an einem Samstag Abend länger geöffnet hat. Ich ertappte mich dabei verwirrt darüber zu sein, ob sie vielleicht ebenso verwirrt war. Die erste Station sollte jedoch der Bäcker schräg gegenüber sein. Ich blickte hinüber und entdeckte mehrere, steile Treppenstufen, die den Aufgang zur Backstube bildeten. Nach meiner Erstdiagnose konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das Mütterchen mühelos dorthin gelangen könnte und so fragte ich etwas zögerlich nach, ob sie denn Geld dabei hätte, damit ich das Brot für sie holen kann. Als Antwort reichte mir bereits ein wehleidiges „Ja, aber sehr wenig“ um einen schnellen caritativen Entschluss zu fassen, dass das Brot auf meine Kappe geht. Auf die Frage, was für ein Brot sie denn haben mag, hatte ich mit allem gerechnet, aber nicht mit dem Wunsch nach einem „Joggingbrot“. Das passte nun mal gar nicht in das aktuelle Kapitel und trotzdem joggte ich voller Tatendrang los, um der Dienstanweisung von Omi gerecht zu werden.

In der Bäckerei angekommen, entschied ich mich dann doch für ein halbes Kartoffelbrot geschnitten, da das Sportlaib nicht mehr die Brotregale schmückte. Beim Bezahlen erhielt ich die Eingebung mich beim Personal schlau zu machen, ob die alte Frau denn dort öfter mal zu Gast ist. Nach einer kurzen Personenbeschreibung bekam ich folgende, wertvolle Information mitgeteilt, die meinen weiteren Entscheidungsbeschluss ungemein beeinflusste. Das Ömchen war bereits bekannt als ausgebuffte Göre, die sich täglich ihre Mitleidsportion bei ahnungslosen Passanten abholt und sich auch mal gerne etwas bezahlen lässt, obwohl sich in ihrem Rollwagen zwei Geldbörsen verstecken und sogar ein Handy, mit dem sie ihre Tochter anrufen kann, die aber nicht gerade ein freundliches Naturell besitzt. Sie sei weder dement noch verwirrt, sondern bei klarem Verstand und durchaus verkehrstauglich, trotz Parkinson-Erkrankung, mit dem Bus nach Hause zu fahren. Am Ende wurde mir eine ernst gemeinte Beileidsbekundung ausgesprochen mit der Anteilnahme: „Viel Glück! Handeln Sie nach Ihrem Gefühl!“

Ich nahm die kurze Aufklärung erst einmal ohne Bewertung entgegen.

Zurück an der Basisstation, meldete ich meiner Mutter auf Griechisch die Neuigkeiten der Backwareninformanten. Jetzt weiß ich auch, weshalb man so etwas auch Muttersprache nennt. Dann überreichte ich der Dame das halbe Brot. Ein Danke blieb aus. Gut, dachte ich, weiter geht’s und mein Gefühl sagte mir in diesem Augenblick, dass wir bald in einer echten Sackgasse stecken würden.

So kam es dann auch, denn unsere Raffinesse hatte genaue Vorstellungen, wie der Plan weitergehen sollte, doch ungünstigerweise passte keines ihrer Endvorschläge in unsere Vorhaben. Sie bestand hartnäckig darauf, noch zu einem Supermarkt zu gelangen, um weitere Lebensmittel für das bevorstehende Wochenende zu besorgen. Dafür bräuchte sie aber jemanden, der sie dorthin fährt, ihr die Ware aus den Regalen holt und sie dann auch noch am liebsten nach Hause bringt. Ein Taxi wäre für alles zu teuer, denn sie hat nur noch 12 Euro im Geldbeutel, die Tochter läge wohl sehr krank im Bett, der Betreuer sei ein ganz böser Mensch, der ihr das Geld kürzt und nur per Anrufbeantworter zu erreichen ist und vom Rettungsdienst wolle sie erst recht nichts wissen, denn dieser sei alles andere als eine Hilfe für sie.

Ich erklärte ihr in ruhigem Ton, dass ich nur einen Zwei-Sitzer-Smart fahre, ihr Rollator und sie da nicht genügend Platz haben, dass wir bald selbst gerne nach Hause wollen und dass sie nicht alles haben kann! Zwischenzeitlich hörte ich meine Mutter in griechischem Ton fordern: „Lassen wir sie stehen, wir können sture Esel nirgendwo hin bewegen!“ Nun erklärte ich meiner Mutter in ruhigem Deutsch-Ton, dass sie zwar recht hat, ich aber heute Nacht nicht entspannt schlafen kann, wenn ich nicht weiß, wie Frau N., wie ich sie nun mit ihrem tatsächlichen Namen nannte, heute noch nach Hause kommt.

Frau N. berichtete mir weiter mit tratschfreudiger Lust, dass sie vorige Woche das Glück hatte auf eine überaus nette Passantin zu treffen, die sich nur ihretwegen mitten auf die Straße „schmiss“ um einen Wagen anzuhalten, indem zwei fremde Männer saßen. Ohne Wenn und Aber hätten sich die beiden kurzerhand dazu bereit erklärt, wohltätige Gerontohilfe zu leisten und Madamchen komfortabel nach Hause zu chauffieren. Dasselbe blühte mir jetzt wohl ebenso bevor, denn sie hatte mich zwischenzeitlich in ein solidarisches „Wir-Denken“ eingelullt, dass diese glorreiche Aufgabe jetzt mir gehören würde. Das war nicht ernsthaft meine Bestimmung, dachte ich und fragte mich, ob das Schicksal sich in diesem Fall vertan hatte, mich einer solch unangenehmen Situation auszusetzen. In meiner blumigen Fantasie sah ich bereits die ersten „Yes, we can!“- Schilder aufleuchten, St. Martin, wie er seinen Mantel teilt, Mutter Theresa, Hand-in-Hand mit Prinzessin Diana und nach einem Blick zur anderen Seite meine griechische Mutter, die mir per schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck signalisierte, dass in ihrer Bandscheibenpolitik die Krise ausgebrochen ist und sie jetzt austreten will.

Just zu diesem Zeitpunkt kam ein gut aussehendes Pärchen vorbei und nahm aus unserer ausweglosen Konversation ein paar Wortfetzen auf. Nach kurzem Blickkontakt öffnete ich mich ihnen, dass ich hier nicht weiter komme und bekam dann ihre volle Aufmerksamkeit und ihr Interesse geschenkt. Der Mann war zufälligerweise Arzt, wie sich wenig später rausstellte und checkte für sich auch erst einmal die Lage. Ich übergab ihm mein Schichtprotokoll und machte eine kleine Pause. Sein Ton mit Frau N. umzugehen war sehr bestimmend, was ihr aber kaum imponierte. Seine Freundin und er waren bereit, das Taxigeld für den Nachhauseweg zu übernehmen, doch unsere dickköpfige Olle blieb weiterhin stur auf ihrem Trip hängen, dass erst der Supermarktbesuch stattfinden müsse. Ein anderes gut gekleidetes Paar blieb ebenso bei uns stehen und nun war der Rat gegründet.

Unserem Doktor stieß das unnachgiebige Verhalten der Alten ziemlich auf, denn offensichtlich hatte er es tagtäglich mit dieser Art von Bockigkeit der menschlichen Natur zu tun, die einfach nicht verstehen will. Ein ermüdender Kampf gegen Windmühlen. Und so beschloss er kurzerhand und ohne das Wissen von Frau N., den Rettungsdienst zu informieren, während seine Freundin das Dinner-Restaurant benachrichtige, dass die Reservierung sich um eine weitere halbe Stunde verzögern würde. Unser Hilfs-Ensemble fing langsam an heimelig zu werden. Eine aufmerksame Hotelfachangestellte vom Gebäude gegenüber bot uns ein Glas Wasser für unser ausgedörrtes Felsenpflänzchen an und der Arzt ließ uns per Stille Post wissen, dass das Rote Kreuz Frau N. bereits kennt und uns lieber die Polizei vorbeischickt. Tante Gutgekleidet spielte mit dem Gedanken uns vom Hotel noch ein paar kalte Bierchen zu holen, damit das Warten schmackhafter wird. Die Stimmung war also recht heiter und ausgelassen. Unsere eigenbrötlerische Weibermarke hielten wir latent bei Laune und nach 20 Minuten kam das blauweiße Auto an.

Auf einmal hüpfte Old Lady Dreist wie von der asiatischen Tigermücke gestochen blitzschnell von der Bank auf, schnappte sich ihren Rollator und flitzte wie der Kleine Muck in seinen Zauberpantoffeln rasch um die nächste Ecke, so dass wir sie nicht mehr sehen konnten. Die jungen Polizisten legten eine beneidenswerte Nonchalance an den Tag, denn sie waren es gewohnt, sie immer wieder einzusammeln und animierten uns, das Geschehnis gerne in Baden-Baden zu verbreiten, damit die Bürger darüber informiert werden, welch ausgekochtes Schlitzöhrchen sich hinter dieser hinterlistigen und mitleidserregenden Schauspielerin verbirgt. Zu ihrer Enttäuschung outeten wir uns allesamt als Touristen. Am Ende verabschiedeten wir uns freudig und erleichtert von einander und widmeten uns wieder unserer eigenen Wege.

Einen kostbaren Erfahrungswert hinterlässt diese Geschichte. Ähnlich wie Sokrates schon mit seinen drei Sieben umging, sollte man sich auch hier nicht blenden lassen von gewohnten Erzählungen über arme alte Menschen. Die eigene Prüfung ist immer die wichtigste, um auszusieben, ob es sich um die Wahrheit handelt, ob es gut ist und vor allem notwendig.

Frau N. war in diesem Fall eine alte Frau ohne Dankbarkeit. Man reichte ihr den kleinen Finger und sie wollte den ganzen Arm. Damit wird sie leider nie das wahre Glück erfahren, denn das liegt gewiss nicht in den Regalen von Penny, Netto oder Kaufland.

Anastasia Evgeniou

3 Kommentare

  1. Thomas Reible

    Hallo Ana,

    Interessante Erfahrung, die du da mit deiner Mutter machen durftest. Auch wieder einmal ein Beweis für die Existenz von Menschen, die die Hilfsbereitschaft anderer gerne auch mal für sich ausnutzen.
    Auch hier habe ich mich wieder mit einem Schmunzeln auf den Lippen deinen Ausführungen deines Erlebnisses hingegeben. Dabei dachte ich mir, vielleicht solltest du diese Geschichten/Erlebnisse, so lebendig wie du sie schreibst, einfach sammeln und in “Buchform” der Breite zur Erheiterung öffnen.
    Alles Gute und lG aus dem Rheinland

    Thomas

  2. Liebe Anastasia,
    zuerst fiel mir auf, dass ist Anastasia immer hilfsbereit – Therapeutin immer im Dienst – deine Berufung – egal wann wo und wie! Was Thomas schrieb, kann ich nur unterstreichen mit Schmunzeln gelesen – die Poesie deiner Sprache du hast unglaubliches Talent tolle Seite schreib weiter – ja schreib doch ein Buch über deine Erlebnisse mit Menschen mit den Stärken und den Schwächen über Leid und über Freude mit Ihnen- Ich durfte dich auch in der Klinik nicht nur als Qi Gong Lehrerin die Beste übrigens, sondern auch als Psychotherapeutin kennenlernen du hast die Fähigkeit damals vor 5 Jahren schon und nun ist mir aufgefallen du bist weiter gewachsen in deiner Art Menschen zu verstehen Menschen zu begleiten – mach da mehr du hast soviel Einfühlungsvermögen soviel Menschenkenntnis erworben

    Nun zur Geschichte:

    die obige Geschichte von dir ist zwar schon ne ganze Weile her aber war sehr interessant , denn leider trifft man in der Tat immer wieder auf Menschen dieses Formats 🙁 ans Mitleid appellierende Mitmenschen Spitzbuben der Lügen. Mir so geschehen in Berlin, ein Teenager dem der Geldbeutel inkl. Zug- karte ganz überzeugend geklaut wurde inkl. Handgepäck, nun seine Bahnfahrt nach Hause (Bayern) noch dazu den Zug den wir auch Richtung Heimat nehmen wollten, nicht antreten konnte. Als Mutter einer ebenso fast gleichaltrigen Tochter ging mir die Geschichte ans Herz und Mitleid erfasste mich. Ihm fehlten ja nur noch 20 Euro weil ebenso so mitfühlende Mitmenschen wie ich ihm bereits einen Teil spendierten. Also dem armen Kerl musste nun doch geholfen werden, um die Glaubwürdigkeit noch zu unterstreichen gab er mir die Telefonnummer seiner Mutter die wir gemeinsam anrufen wollten um sie beruhigen, dass er nun den Zug nach Bayern Dank unserer Hilfe erreichen könne – aber er müsse erst ganz schnell auf die mit Männchen dekorierten Tür im hinteren Teil des Bahnhofs.
    Nun – er ward nie mehr gesehen und die Telefonnummer : “Kein Anschluss unter dieser Nummer”

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